Monster

Monster gibt es nicht. Warum also wird das Wort „Monster“ immer wieder in der Alltagssprache verwendet? Warum begleitet uns dieses Wort mit all seinen Variationen so regelmäßig in der medialen Berichterstattung? Reicht es nicht aus, dass wir „das Monster“ in seinem literarischen Genre antreffen können, um uns zu gruseln? Wozu führt die leichtfertige Aussage, jemand anderes sei ein „Monster“? Welche Gefahr lauert hinter der Verallgemeinerung, jemand verhalte sich wie ein „Monster“? Barry Windsor-Smith jagt uns mit seinem Comic „Monster“ einen Schreck ein, der – einmal gezeichnet – nie mehr ganz verschwinden wird …

von Daniel Pabst

Es ist das Jahr 1949. Die Örtlichkeit, die wir sehen, ist ein altes Holzhaus mit einer Scheune und einem großen Garten – irgendwo im Bundesstaat Ohio. Vier Jahre ist es her, dass der zweite Weltkrieg durch die deutsche Kapitulation beendet wurde. Endlich darf auch der Familienvater Tom Bailey als Sieger in seine amerikanische Heimat zurückkehren, in der seine Frau Janet und der gemeinsame Sohn Bobby sehnsüchtig auf ihn warten. Zwischen dieser freudigen Rückkehr und dem Abbild, welches wir auf dem Titelcover des Comics „Monster“ sehen, liegen nur 14 Jahre. 14 Jahre, in denen sich das Leben des Sohnes Bobby gewaltig verändert hat – und dessen Erlebnisse wir als Lesende begleiten. Das hier Gezeichnete und Geschriebene ist mit einem solchen Nachbeben verbunden, dass es sich lohnt, den Comic „Monster“ auf verschiedenen Ebenen zu betrachten:

Bereits die Schaffensphase von „Monster“ lässt einen aufhorchen. Denn Barry Windsor-Smith (bekannt unter anderem für „Wolverine: Waffe X“ und für seine Zeichnungen für „Conan der Barbar“ aus den 1970er Jahren) zeichnete die ersten Panels für „Monster“ in den 1980er Jahren. Doch eine Veröffentlichung eines fertigen Werks blieb aus. Schnell avancierte dieser Comic zu den meisterwarteten Werken – begleitet von der Ungewissheit, ob er je erscheinen würde. Mehr als 35 Jahre später war der Originaltitel „Monsters“ vollendet. „Monster“ (auch im Deutschen übrigens im Plural zu lesen, wenngleich das Cover die Singular-Lesart nahelegt) ist dabei auch sein erstes Buch nach 16 Jahren, in denen er nichts veröffentlichte. Die deutsche Ausgabe ist in diesem Jahr bei Cross Cult erschienen und umfasst 368 Seiten. Das Format der Hardcover-Ausgabe misst 32 cm (Höhe) x 22,4 cm (Breite) x 3,4 cm (Tiefe) und liegt so schwer in beiden Händen, dass man den Comic besser auf dem Tisch vor sich ausbreitet. Für den Lesegenuss wurde auch ein farblich passendes Lesebändchen eingefügt, was den Wiedereinstieg in den Comic erleichtert. Ins Deutsche übertragen wurde der Comic für Cross Cult von Jano Rohleder und Rowan Rüster.

Das Cover erzeugt erste Gedankengänge über die Handlung. Schnell ist man da bei Mary Shelleys „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ (1818) und wundert sich über die amerikanische Flagge, die das „Monster“ in seinem Ohr hat – kennt man das doch ganz anders und so harmlos von Partys, bei denen Zahnstocher-Flaggen allerlei Leckereien, wie Appetithappen, Käse oder auch Cupcakes verzierten! Oder man denkt dabei angesichts der Gesichtszüge kurz an Victor Hugos „Der Glöckner von Notre-Dame“ (1831). Dann wäre da noch so ein grünes Ungetüm mit Namen „Hulk“ von Marvel-Comics, das einem zu Beginn in den Kopf kommen könnte. Jetzt will man es aber genau wissen und schlägt den Comic auf: Wer also sind die „Monster“ diesmal?


 
Ohne Vorwort setzt die Handlung ein. Tom Bailey verprügelt in der Scheune seinen Sohn Bobby und gibt dabei eine seltsame Abfolge von deutschen Worten von sich, wovon das Wort „Wahnsinn“ heraussticht. Nur durch die heraneilende Mutter kann Bobby gerettet werden und entgeht so dem Tod. Als Folge dieser Misshandlung erblindet Bobby auf dem linken Auge. Wenn Janet ihrem Ehemann entgegenschreit: „Monster! Du Monster!“, so ist es das erste Mal, dass jemand in diesem Comic diese Bezeichnung erhält. „Absolut zu Recht!“, könnte man einem ersten Impuls folgend meinen. Stopp! Was hat Tom dazu bewegt, so zu handeln? Was hat er während seines Militärdiensts erlebt? Welche Verbrechen hat er bei der Befreiung Deutschlands gesehen? Hat sein Verhalten damit zu tun, dass er erst 1949 zu seiner Familie in die Vereinigten Staaten zurückkehren durfte? Und warum spricht er auf einmal Deutsch? Kann Janet ihren geliebten Sohn beschützen?

Aber bevor wir das erfahren und tiefer in die Familientragödie eindringen werden, findet ein Zeitsprung statt. Nun bewirbt sich Bobby als mittlerweile 23-Jähriger in Los Angeles (Bundesstaat Kalifornien) beim Militär, um – wie sein Vater – als Soldat den Streitkräften der Vereinigten Staaten und damit seiner Nation zu dienen. Im Rekrutierungszentrum sitzt Bobby der Sergeant McFarland gegenüber. Als McFarland gesagt bekommt, dass Bobby keine Eltern und auch keine Verwandten mehr habe, zieht er eine Registerkarte, die als Verschlusssache nur einmal zu verwenden ist und tätigt einen kurzen Anruf. Denn aus einem Impuls heraus hat er beschlossen, Bobby für ein geheimes Regierungs- und Militärprogramm namens „Prometheus“ zu rekrutieren. Dabei wurde der Namen „Prometheus“ nicht zufällig gewählt! Doch all dies verheimlicht der Sergeant dem Rekruten. Und so geht es blitzschnell. Noch ehe sich Bobby versieht, ist er in die Hände verrückter Doktoren und Wissenschaftler geraten, die ihn für das Militär über Monate hinweg nach ihrer Vorstellung und im Wahn „formen“ werden.

Geplagt von Gewissensbissen und durch eine Vorsehung geprägt, versucht McFarland nach reiflicher Überlegung, Bobby wieder aus den Fängen des Prometheus-Projekts zu befreien. Dabei stößt er auf die angebliche Verbindung zu einem „geheimen Nazi-Projekt“, welches die amerikanischen Streitkräfte nach dem Krieg entdeckt haben sollen. Dieses soll der Erschaffung eines „Supermenschen“ gegolten haben. Zum Schrecken McFarlands sind die genetischen Manipulationen aber abgeschlossen. Bobby hat sich – von blubbernden Flüssigkeiten und bestialisch-stinkenden Dämpfen umgeben – in einen „ultimativen Krieger“ von 332 Kilogramm verwandelt. Willenlos soll er den Vereinigten Staaten fortan militärische Übermacht schenken. Das unmenschliche Experiment ist allerdings gewaltig schiefgegangen! Als Bobby aus den Laborflüssigkeiten heraussteigt, sehen wir denjenigen, der uns auf dem Cover des Comics begegnet ist. Bobbys Zellen wurden ersetzt und die Organe deformiert. Seine unnatürliche Größe und Stärke schüren Angst, sodass das Militär versucht, das „böse Monster“ auszulöschen. Doch steckt hinter dieser „Fassade“ nicht immer noch ein Mensch?

Sehr beeindruckend an dieser bedrückenden und auch brutalen Rahmenhandlung ist, wie Barry Windsor-Smith die weiteren Ereignisse damit verknüpft hat. McFarland folgend erleben wir einen gebrochenen Sergeant, der das militärische System hinterfragt, sowie eine Familiengeschichte, die mehr und mehr metaphysische Züge annimmt. Janet, Tom und Bobby folgend sehen wir dagegen, wie das vermeintlich wiedergefundene Glück einer Familie in Misshandlungen, Kränkungen und Alkoholsucht umkippt. Zudem strickt Barry Windsor-Smith in dieses Familienleben eine Affäre hinein, die geschichtliche Bezüge enthält und schmerzhaft daran erinnert, dass die Auswirkungen eines Krieges nicht immer sichtbar sind – und nicht allein an der Front stattfinden. Wenn sich der Comic zum Ende hin mit den Erlebnissen des Colonel Friedrich – der Teil des Projekts „Prometheus“ ist – beschäftigt, treten „Monster“ auf, die in Relation zum mutierten Bobby wahre „Übermonster“ sind …   



So gigantisch wie die Erzählung im Comic „Monster“ angelegt ist, so gigantisch sind auch die Zeichnungen. Diese sind nämlich allesamt in Schwarz-Weiß gehalten worden. Von klassischen 9er Panels auf einer Seite, hin zu ganzseitigen Zeichnungen, aber auch zu rahmenlosen und sehr künstlerischen Anordnungen der Panels ist in diesem Comic alles enthalten. Immer passen diese zum Tempo der Handlung und beeinflussen so die Gefühle beim Lesen. Sehr stark stechen die Tagebucheinträge von Janet heraus. Das hätte man so sicher nicht erwartet! Beinahe mag man diese Seiten als „Jump-Scare“ ganz eigener Art bezeichnen. Denn plötzlich tauchen sie erst nach gut einem Drittel des Comics ganzseitig auf und lassen uns in das Innenleben von Janet blicken. Umso furchtbarer ist es dann, mitanzusehen wie Bobby durch seinen Vater gebrochen wird, ohne dass die Mutter etwas davon mitbekommt. Oder will sie das alles einfach nicht sehen? Beim Wechsel von Tagebucheinträgen und „realen“ Geschehnissen in klassischer Comic-Form, entfaltet der Titel „Monster“ eine nur schwer auszuhaltende Wirkung. „Schaut nicht (mehr) weg!“, will uns Barry Windsor-Smith immer wieder zurufen!

„Monster“ ist ein Gigant in der Comic-Welt. Ganz sicher hat man viele Stunden Zeit zu investieren und kann ihn daher nicht nebenbei lesen. Auch sicher ist, dass es nicht leicht fallen wird, den Comic zu lesen. Und auch klar ist, dass die Themen anstrengend, furchteinflößend und gewalttätig sind. Wie das Familienidyll mehr und mehr zerstört wird und seine Fortsetzung in dem Missbrauch Bobbys durch das Projekt „Prometheus“ findet, beinhaltet das zahlreiche Methapern und fühlt sich dennoch „real“ an. Durch die großflächigen Tagebucheinträge erhält der Comic eine zusätzliche Ebene und macht den Comic noch „realer“. So kommt auch der für diesen Comic ebenfalls verwendete Begriff „Graphic Novel“ zustande – also graphischer Roman. Vielleicht lädt der – für Comic-Leserinnen und Comic-Leser eher untypisch – hohe Anteil von Sätzen so auch all diejenigen ein, sich „Monster“ zu kaufen, die sonst um Comics weite Bögen machen – was sich zum Glück jederzeit ändern lässt ...   

Leseprobe

Fazit: Wie erschafft man solch ein epochales Werk? Hat sich Barry Windsor-Smith vielleicht unfreiwillig ein Beispiel an Johann Wolfgang von Goethe genommen, der sich für sein Lebenswerk und den absoluten Klassiker „Faust“ ebenfalls jahrzehntelang Zeit ließ? Mit „Monster“ steht ein Comic in den Verkaufsregalen, der ins eigene Bücherregal gehört! Wer diesen Comic liest, erhält schockierende Einblicke in die menschlichen Abgründe, wird erschüttert und blickt tief berührt auf die Menschheitsgeschichte zurück. Wie nur, fragt man sich am Ende, können wir das Wort „Monster“ zukünftig aus der Alltagssprache verbannen? Wahrscheinlich wird dies erst dann möglich sein, wenn sich kein Mensch mehr so verhält, wie es die „Monster“ im Comic „Monster“ tun.

Monster
Comic
Barry Windsor-Smith
Cross Cult 2022
ISBN: 978-3-96658-600-9
368 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 40,00

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