Sandman – Die Traumjäger

Vor zehn Jahren realisierte Neil Gaiman gemeinsam mit dem japanischen Grafikkünstler Yoshitaka Amano den illustrierten Roman „Die Traumjäger“. 2008 widmete sich Gaiman in Zusammenarbeit mit dem Zeichner P. Craig Russell noch einmal der mehrfach preisgekrönten Fabel um die tragische Liebe zwischen einem Mönch und einem Fuchsgeist im mittelalterlichen Japan. Russell, der bereits die „Sandman“-Erzählung „Ramadan“ illustriert hatte, adaptierte „Die Traumjäger“ als Graphic Novel. Von Anfang an begeisterte er sich für die Aktualisierung des romantischen japanischen Märchens aus der Sammlung des Schriftstellers Y.T. Ozaki. Doch die Zusammenarbeit mit Gaiman eröffnete ihm ebenso wie den Lesern überraschende neue Erkenntnisse über die Geheimnisse des Fernen Ostens, denn Gaiman war als Meister der postmodernen Mythopoesis mal wieder seinem Ruf in vollem Umfang gerecht geworden.

von Andreas Rauscher

 

In der illustrierten Romanfassung von „Sandman – Die Traumjäger“ findet sich lediglich ein kurzer Hinweis auf die Vorlage der Geschichte. Ein Märchen des japanischen Schriftstellers Y.T. Ozaki hätte Neil Gaiman zur Fabel über eine tragische Liebe im mittelalterlichen Japan inspiriert. Wie so häufig in asiatischen Geistergeschichten und Wu-Xia-Epen gehören auch in „Die Traumjäger“ die Liebenden zwei getrennten Welten an. Ein attraktiver Fuchsgeist verliebt sich in einen enthaltsamen und in seinem Verhalten meistens überkorrekten Mönch. Gerade auf Grund seiner moralischen Integrität wird dieser zum Opfer eines ebenso ängstlichen wie wohlhabenden Gelehrten, der mit Hilfe eines dämonischen Paktes das Karma des Mönchs nach dessen Ermordung für sich nutzen will.

Die Füchsin kommt der Intrige auf die Spur und versucht mit Hilfe des Herrschers der Träume die hinterhältigen Pläne des Gelehrten zu durchkreuzen. Doch wie nicht anders zu erwarten, nimmt die Handlung die Wendung zum Tragischen. In dieser Hinsicht steht die Erzählung ganz in der Tradition japanischer Geistergeschichten wie sie sich etwa in dem Filmklassiker „Ugetsu Monogatari / Erzählungen unter dem Regenmond“ (Japan 1953) von Kenji Mizoguchi finden. Bei genauerer Betrachtung erscheint vielleicht ein wenig verdächtig, dass die Opulenz des Geschehens eher an die chinesischen Wu-Xia-Märchen als an die japanischen Geisterparabeln erinnert, und dass im Epilog der Geschichte Dream, der als Herrscher der Träume lediglich einen kurzen Gastauftritt absolviert, darüber sinniert, dass die Ereignisse zwar einen lehrreichen Effekt gehabt hätten, er sich aber weigere, diesen zu benennen.

Selbstreflexive Kommentare dieser Art passen nun nicht mehr zu asiatischen Märchen und Folkloreerzählungen, sondern klingen ganz nach postmodernen Mythenbasteleien, und in der Tat handelt es sich bei „Die Traumjäger“ um einen besonders schönen Fake, der erst zur Veröffentlichung der Graphic Novel aufgedeckt wurde.

Neil Gaiman hatte die Vorlage dem japanischen Dichter Y.T. Ozaki zugeschrieben, ohne dass sie sich in dessen Sammlung japanischer Legenden ausfindig machen ließ. Mehrere Literaturseminare hatten sich umsonst auf die vergebliche Suche nach dem Original begeben, in Wirklichkeit war die Legende von Gaiman frei erfunden worden und verarbeitete, vergleichbar dem Bioware-Rollenspiel „Jade Empire“ (2005), assoziativ Motive und Typologien aus der asiatischen Folklore. Der kreative Schwindel entfaltete jedoch eine amüsante Eigendynamik. Ein Autor des Online-Lexikons Wikipedia fühlte sich bei der Lektüre der tragischen Romanze an Pu Songlings chinesische Wu-Xia-Märchen erinnert, auf denen zahlreiche Filme des neueren Hongkong-Fantasy-Films wie „A Chinese Ghost Story“ (1987-1990) und „China Swordsman“ (1992/1993) basierten. Diese kannte umgekehrt Neil Gaiman nicht und bemerkte in seinem Blog, dass er sie einmal lesen müsse.

Sowohl die Erzählung, als auch die Diskussion um die vermeintliche Vorlage verdeutlichen auf eindrucksvolle Weise, wie Gaiman mit seinen Werken eine postmoderne Oral Tradition kreiert, die sich nicht in oberflächlichen Zitatspielen erschöpft, sondern mit einer ausgeprägten Liebe zum Detail Stil, Dramaturgie und Ästhetik der Vorlagen aufgreift, um sie kreativ fortzuspinnen.

„Die Traumjäger“ bildet als Kunstmärchen eine Japan-Phantasie, die als westliche Reflexion auf die asiatische Mythologie unterschiedlichste Motivkomplexe und künstlerische Einflüsse aufgreift und sie zu einem stimmigen Ganzen vereint. Während Gaimans Erzählung den parabelhaften Charakter der asiatischen Märchen geschickt imitiert, greift Russell in seinen eleganten Zeichnungen Elemente aus japanischen Holzschnitten (falls diese am Ende nicht auch noch von ihm erfunden wurden) und diverse Art Noveau-Einflüsse auf. Durch die gelungene grafische Umsetzung wird Gaimans ursprüngliche Romanfassung um eine eigenständige, in ihren atmosphärischen Kompositionen reizvolle visuelle Ebene erweitert. Dass der Ausgangspunkt ein hübscher literarischer Bluff war, spielt keine wesentliche Rolle mehr. Statt sich auf den reinen Gag zu fixieren, verdeutlicht „Die Traumjäger“ vielmehr, wie im Rahmen internationaler Austauschbeziehungen popkulturelle Mythen auf einer globalen Ebene als imaginäre Welten funktionieren können, die auf ihre regionalen Besonderheiten verweisen und dennoch ortsunabhängig fortgeschrieben werden können.

Fazit: Eine auf Grund ihrer visuellen Eigenständigkeit einen besonderen Reiz entfaltende Graphic-Novel-Adaption. Neil Gaiman und der Comiczeichner P. Craig Russell bauen das als amüsanter postmoderner Fake begonnene japanische Kunstmärchen zu einem melancholischen Wu-Xia-Epos in der Tradition von Hongkong-Filmen wie „A Chinese Ghost Story“ aus.


Sandman – Die Traumjäger
Comic
Neil Gaiman, P. Craig Russell
Panini / Vertigo 2010
ISBN: 978-3-86607-789-8
148 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 16,95

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